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Polizeikessel in Berlin Köpenick - verhältnismäßig?

Wie weit geht die Berliner Polizei beim Einsatz gegen das Corona-Virus? Will man Menschen zum Kochen bringen? - Bericht, Standpunkt, Fragen


Erstveröffentlichung: 01.02.2022
Letzte Aktualisierung: 02.02.2022, 10:30

Montag, den 24.01.2022, gegen 18 Uhr, ca. 200 friedliche Menschen spazieren mit großem Abstand in einer langen Schlange über die fast menschenleere Dammbrücke in Berlin Köpenick. Sie zählen zu den Menschen, Jung und Alt, die dieser Tage in ganz Deutschland zu hundertausenden an die frische Luft gehen, um für ihre Gesundheit und Freiheitsrechte einzutreten, - wohlgemerkt, ohne dabei andere zu gefährden.

Die Spaziergänger bewegen sich entlang der Lindenstraße. Ohne Vorwarnung werden sie binnen kürzester Zeit von der 11. und 15. Einsatzhundertschaft der Berliner Polizei eingekesselt und unter dem Vorwurf, sie stellten eine verbotene Versammlung dar, seien eine Gefahr im Sinne der Berliner Infektionsschutzverordnung, ca. 1 bis 2 Stunden festgehalten, und dann sukzessive einzeln von jeweils 2 bis 4 Beamten aus der Menge abgegriffen, abgeführt, gefilmt und einer "Bearbeitung" zugeführt.

Ist das verhältnismäßig? Meiner Meinung nach ist dieser Polizei-Einsatz grob unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. Das dürfte jeder Bürger bei Ansicht des folgenden Videos erkennen.

Berlin Berlin TV: Live Bericht von Berliner Montagsspaziergang aus Köpenick #Be2401

Erste Durchsage der Berliner Polizei (45min42sek):

Achtung, Achtung! Es folgt eine Durchsage der Polizei Berlin:
Diese Durchsage richtet sich an die Personen auf der Dammbrücke.
Ihre Zusammenkunft stellt eine Versammlung im Sinne des Versammlungsfreiheitsgesetzes Berlin dar.
In Ihrer Versammlung wird fortwährend und überwiegend gegen das Abstandsgebot und gegen das Tragegebot einer Mund-Nase-Bedeckung und somit gegen die Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Senats von Berlin verstoßen.

Auf Grund der damit einhergehenden unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit wird Ihre Versammlung hiermit aufgelöst. Da Sie als Teilnehmende einer Versammlung bereits Verstöße gegen die Infektionsschutzmaßnahmenverordnung begangen haben, wird die Polizei Berlin Sie an diesem Ort vorübergehend in Gewahrsam nehmen und zum Zwecke einer Identifizierung und zur Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens einer Bearbeitungsstelle zuführen.
Es ist jetzt 18:47.

Mein Eindruck ist, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip grob verletzt wurde. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfte jedem Polizeibeamten bekannt sein.

Zur Erinnerung:


Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Verhältnismäßigkeit bedeutet, dass jede Maßnahme, die in Grundrechte eingreift, einen legitimen Zweck verfolgen, und dabei geeignet, erforderlich und verhältnismäßig (i. engeren Sinne) sein muss.
Eine hoheitliche Maßnahme, die diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist als rechtswidrig anzusehen.
Rechtswissenschaft verstehen


Der studierte Volljurist wird bei Betrachtung dieses Falles wahrscheinlich darauf hinweisen, dass der Einsatz der Polizei und die ihm zu Grunde liegende Verordnung zwei unterschiedliche Dinge sind und dass es wenig Sinn macht, die Verhältnismäßigkeits-Prüfung einem Laien ohne 2. juristisches Staatsexamen zu überlassen.

Ich vertrete die Gegenthese: Es macht durchaus Sinn, das Rechtsverständnis von Laien mit Fällen wie diesem auf die Probe zu stellen. Nicht zuletzt geht es darum, zu prüfen, wie weit das Rechtsempfinden eines gemeinen Bürgers von der Praxis der rechtsgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Gewalt in Deutschland entfernt ist.

Im Folgenden meine Verhältnismäßigkeitsprüfung des Falls "Dammbrücke" in vier Grundschritten:

1. Legitimer Zweck
Der Zweck der Maßnahme setzt den Maßstab und Bezugspunkt für die Frage, ob die Maßnahme zur Erreichung gerade dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist. So macht es hinsichtlich des Zwecks keinen Unterschied, ob der tödliche Schuss aus der Waffe eines Polizisten abgegeben wird, um einen um sich schießenden Terroristen auszuschalten, oder mit dem Ziel, den ertappten 15-jährigen Ladendieb an einer möglichen Flucht zu hindern. Nur wenn ein Zweck an sich schon gegen die Wertung des Grundgesetzes verstößt, ist er nicht legitim. Ist bereits der Zweck als solcher nicht legitim, ist die Maßnahme bereits deshalb nicht verhältnismäßig. Schießt der Polizist also ausschließlich, um zu töten, wäre der Zweck aufgrund der Wertung des Grundgesetzes nicht legitim.

Zweifelhaft

Nehmen wir mal an, dass die Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Senats von Berlin selbst verhältnismäßig ist. Wie der Name der Verordnung sagt, sollte vermutlich der Zweck der polizeilichen Maßnahme am 24.01.2022 auf der Dammbrücke in Berlin Köpenick der "Schutz der Bevölkerung vor einer Infektion mit SARS-Cov-2" sein. Ist dieser Zweck legitim? Auf den ersten Blick ja. Wer wollte schon behaupten wollen, dass der Schutz der Bevölkerung vor Ansteckung mit einem Virus illegitim sei?

Der Einsatzleiter sprach jedoch in seiner Ansage von einer "unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit". Dass durch eine Gruppe von Spaziergängern, die in langer Schlange mit mehr oder weniger großen Abständen an der frischen Luft spazieren gehen, eine unmittelbare Gefahr für die öffentlich Sicherheit ausgeht, ist spätestens seit dem Gutachten des führenden Aerosolforschers Dr. Gerhard Scheuch im Strafverfahren gegen Wolfgang Greulich vor dem Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen wissenschaftlich widerlegt.

In der Begründung des Freispruchs schreibt das Gericht am 11.08.2021:


Wie gutachterlich versichert, ist die Ansteckungswahrscheinlichkeit im Freien „gen 0“, also praktisch nicht vorhanden.


Hier das Verhandlungsprotokoll und Urteil zum Download

Der Fall in Garmisch-Partenkirchen lag freilich etwas anders, ist aber m.A.n. übertragbar. Bei Greulich handelte es sich um eine angemeldete, stationäre Veranstaltung. Wie Prof. Hendrik Streeck in einem Interview ausführte, ist eine sehr geringe Ansteckungsgefahr im Freien, - wenn überhaupt, - nur dann gegeben, wenn sich 2 Personen längere Zeit gegenüberstehen und sich dabei gegenseitig anschauen und anatmen. Das ist bei einem Spaziergang, bei dem die Personen in Bewegung sind und überwiegend in Laufrichtung atmen viel weniger der Fall.

Außerdem stehen sich die nebeneinander laufenden Spaziergänger mit hoher Wahrscheinlichkeit auch sonst nahe, sei es, weil sie aus einem Haushalt stammen oder weil sie bereits miteinander bekannt sind. Damit wäre die Vermutung einer "Gefährdung Dritter" durch die Spazierenden sehr weit hergeholt..

2. Geeignetheit
Wenn die Maßnahme die Erreichung des Zwecks kausal bewirkt oder zumindest fördert, ist sie geeignet. Zur Verminderung des Schadstoffausstoßes eines Industriebetriebes etwa ist der Einbau einer Rauchgasreinigungsanlage oder die Schließung des Betriebes möglich. Nicht geeignet dagegen wäre die Schließung des Unternehmensparkplatzes.

Nicht erfüllt, im Gegenteil!

Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass - wenn überhaupt - eine Ansteckungsgefahr im Freien zwischen maskenlosen Personen bestünde, diese bei einer stationären Versammlung deutlich höher wäre als bei einer langen Schlange von Menschen, die in Bewegung ist.

Der Live-Stream von Berlin Berlin TV zeigt aber deutlich, dass mit den polizeilichen Zwangsmaßnahmen an der Dammbrücke, Vollsperrung der Straße inkl. öffentlicher Nahverkehr, Stopp des Spaziergangs, Einkesselung, Ingewahrsamnahme und anschließender Abfertigung in einer Bearbeitungsgasse über einen Zeitraum von gut 2 Stunden, dem Zweck des Schutzes vor Ansteckung nicht gedient sein konnte. Im Gegenteil.

  1. Die Spaziergänger wurden angehalten und standen damit für längere Zeit in Gruppen ca. 1-2 Stunden enger und länger zusammen als bei ihrem Spaziergang.
  2. Unbeteiligte Passanten, Fußgänger, Radfahrer, Fahrgäste der Straßenbahn etc. wurden am Überqueren der Dammbrücke gehindert. Sie liefen damit auf die Polizeisperre auf, warteten dort und trugen damit zu einer weiteren Ansammlung einander unbekannter Personen bei.
  3. Zahlreiche Polizeikräfte (schätzungsweise hundert Beamte mit MNS) verstärkten die Einsatzkräfte vor Ort, was die Zahl der Menschen in der Ansammlung zusätzlich erhöhte und Räume weiter verengte.

Die im Fall Dammbrücke von der Berliner Polizei ergriffenen Maßnahmen wären also nicht bloß ungeeignet sondern kontraproduktiv.

Ein weiterer Faktor, der eher eskalierend statt deeskalierend und damit kontraproduktiv wirkt, ist das martialische Auftreten der Polizei:

  • das massive Auftreten der Berliner Polizei mit rund 20 Einsatzfahrzeugen und 2 Einsatzhundertschaften, fast ebenso viele Polizisten wie friedliche Spaziergänger
    (- darunter die durch ihren unverhältnismäßigen Einsatz polizeilicher Gewalt bereits mehrfach auffällig gewordene 11. Einsatzhundertschaft)
  • Polizisten mit MNS und Helm am Gurt und
  • der Einsatz von Kameras, obwohl aus der Gruppe der Spaziergänger zu keiner Zeit Anzeichen von Gewalt erkennbar waren

Die eskalierende Wirkung zeigt sich am Beispiel eines am Spaziergang beteiligten oder unbeteiligten älteren Mannes mit Fahrrad, der durch die Maßnahme ungeduldig wurde und begann, einen Polizisten mit "Arschloch" zu beschimpfen. Er wurde sogleich verhaftet und vermutlich wegen Beleidigung angezeigt. Wie viele weitere Straftaten durch das martialische Auftreten der Polizei zusätzlich provoziert wurden, wäre einmal interessant zu erfahren.

3. Erforderlichkeit
Die Maßnahme ist erforderlich, wenn kein milderes Mittel gleicher Eignung zur Verfügung steht, genauer: wenn kein anderes Mittel verfügbar ist, das in gleicher (oder sogar besserer) Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Betroffenen und die Allgemeinheit weniger belastet. Die Schließung des Betriebs aus dem obigen Beispiel ist daher in der Regel nicht erforderlich, weil die Verminderung des Schadstoffausstoßes auch durch die Rauchgasreinigung erreicht werden kann.

Nicht erfüllt

Zahlreiche mildere Mittel hätten mit hoher Wahrscheinlichkeit eher zur Erfüllung des Zwecks beigetragen:

  1. Direkte und freundliche Ansprache der Spaziergänger durch zuvorkommende, örtlich bekannte Kontaktbeamte oder gut ausgebildete Kommunikationsteams
  2. Eine freundliche Ansage durch Lautsprecher, die den Spaziergängern die Möglichkeit gibt, mit ausreichendem Selbst- und Fremd-Schutz ihren Nachhauseweg fortzusetzen
  3. Das Angebot einer Umwidmung des Spaziergangs zu einer begleiteten Kundgebung
    U.v.a.m.
    In jedem Falle ein abgestuftes, deeskalierendes Vorgehen.

4. Angemessenheit
Verhältnismäßig im engeren Sinn ist eine Maßnahme nur dann, wenn die Nachteile, die mit der Maßnahme verbunden sind, nicht völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die sie bewirkt. An dieser Stelle ist eine Abwägung sämtlicher Vor- und Nachteile der Maßnahme vorzunehmen. Dabei sind vor allem verfassungsrechtliche Vorgaben, insbesondere Grundrechte zu berücksichtigen. Geht es beispielsweise um die Frage, ob zur Bekämpfung schwerer Bandenkriminalität die Videoüberwachung von Wohnräumen zugelassen werden soll, ist vor allem das Grundrecht des Überwachten auf Unverletzlichkeit seiner Wohnung gegen das Interesse der Allgemeinheit an der Erhaltung und Verteidigung der Rechtsordnung abzuwägen. Im Schrifttum wird der Begriff der „Zumutbarkeit“ synonym zum Begriff „Angemessenheit“ verwendet.
Wikipedia: Verhältnismäßigkeitsprinzip (Deutschland)

Nicht erfüllt

Hier gilt es, mehrere Grundrechte miteinander abzuwägen:

  1. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit
  2. Das Recht auf Freizügigkeit
    Und wenn man dem Spaziergang Kundgebungs- und Versammlungscharakter geben möchte:
  3. Das Recht auf Versammlung im Freien
  4. Das Recht auf freie Meinungsäußerung

Zu Punkt 1: Recht auf körperliche Unversehrtheit
Die Frage, die sich hier stellt ist, ob der Polizeikessel auf der Dammbrücke unmittelbar dem gesundheitlichen Wohl Dritter genützt oder eher geschadet hat.

  • Zweifellos dient ein abendlicher Spaziergang im Kreise gutgesinnter Menschen dem persönlichen Wohl und der Gesundheit.
  • 1 bis 2 Stunden im Kalten auf einer zugigen Brücke festgehalten zu werden, von Polizeikameras aufgenommen, abgeführt und mit einer Ordnungswidrigkeit abgefertigt zu werden ist sicherlich weniger gesund, weder für den Körper noch für den Geist.

Wie bereits oben erwähnt sollte neben dem Einsatz der Polizei auch die Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Senats von Berlin selbst noch einmal auf Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Nach aktuellem Wissensstand dürfte sie keiner kritischen Prüfung durch unabhängige Verwaltungsgerichte Stand halten.

Was meint ihr? Schreibt mir eure Meinung auf GETTR @zakim

  • Wer außer "Berlin Berlin TV" berichtet darüber?
  • Wer hat mehr gesehen? Wer ist betroffen?
  • Wer reicht Klage ein?
  • Wer übernimmt die Verantwortung?

(1) Live Bericht von Berliner Montagsspaziergang aus Köpenick von "Berlin Berlin TV": https://youtu.be/-XSG7Gt8i****

Zaki Morgenstern Zaki Morgenstern @Zaki Morgenstern

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